Kieferorthopädie - nur für Kinder?

 

Ist die kieferorthopädische Korrektur der Zahnstellung wirklich nur für Kinder und wie funktioniert sie? Wie vieles im Bereich der Medizin und Zahnmedizin hat sich auch das Spektrum der kieferorthopädischen Behandlung enorm erweitert. Längst ist es über die reine Behandlung von Kindern hinausgewachsen. Im Vergleich lassen hier in Spanien allerdings wesentlich mehr Erwachsene Korrekturen an der Zahnstellung vornehmen als in Deutschland. Eine mögliche Ursache liegt sicherlich darin, daß die kieferorthopädische Erwachsenenbehandlung in Deutschland nicht von den Krankenkassen übernommen wird, während hier in Spanien sämtliche Zahnbehandlungen von vornherein privat zu bezahlen sind. Diese finanzielle Eigenverantwortlichkeit des Patienten stärkt allerdings auch die Bereitschaft zur vollen Mitarbeit und den Wunsch auf einen bestmöglichen Erfolg der Behandlung.

Wie funktioniert Kieferorthopädie? Grundsätzlich ist es die gesteuerte Bewegung der einzelnen Zähne innerhalb des Kieferknochens und bei Kindern darüber hinaus eine Einflußnahme auf das Wachstum desselben. Prinzipiell kann mit den geeigneten Apparaturen und der nötigen Geduld von Patient und Kieferorthopäden nahezu jeder Zahn innerhalb des Kiefers an jede gewünschte Stelle bewegt und ausgerichtet werden. Die vielfach oft zu hörenden Horrormeldungen, bei Erwachsenen löse sich der Knochen während der Behandlung auf und die Zähne fielen aus, sind zwar im Prinzip nicht falsch, jedoch immer das Ergebnis einer falschen, auf schnelle Ergebnisse ausgerichteten Behandlung.

Dazu muß man verstehen, was bei der kieferorthopädischen Behandlung im und mit dem Kieferknochen passiert: da ein Zahn durch den Knochen nicht wie durch eine Flüssigkeit gezogen oder geschoben werden kann, muß der vor dem zu bewegenden Zahn auf seinem Weg liegende Knochen abgebaut, der entstehende Freiraum hinter dem Zahn wieder mit Knochen aufgefüllt werden. Es ist ersichtlich und das oberste Gesetz bei jeder kieferorthopädischen Behandlung, daß Knochenaufbau eine definierte Zeit in Anspruch nimmt und nicht beschleunigt werden kann. Der Knochenabbau hingegen kann mit entsprechend hohem Druck, das heißt mit zu stramm eingestellten Apparaturen extrem forciert werden. Auf den ersten Blick scheint der Erfolg eher greifbar, da die Zähne sichtbar schneller wandern. Das Resultat jedoch ist fatal. Die entstehende Lücke hinter dem bewegten Zahn schließt sich statt mit neugebildetem Knochen mit Bindegewebe, da dieses wesentlich schneller wächst - der Kieferknochen wird zwar ab- aber nicht wieder aufgebaut. Der "verlorene" Knochen kann vom Körper nicht mehr ersetzt werden und Zähne können ausfallen.

Der Knochenaufbau erfolgt bei Kindern schneller als bei Erwachsenen. Außerdem kann bei Kindern zusätzlich das natürliche Wachstum des Kiefers für die Behandlung ausgenutzt werden, indem man einzelne Bereiche im Wachstum bestärkt, z.B. mit Dehnplatten. Andererseits kann man die Bewegung der Zähne, die sich durch das Wachstum des Kiefers ergibt, gezielt bremsen und so absehbare Fehlstellungen noch vor ihrer Manifestation verhindern. Deshalb ist die kieferorthopädische Behandlung von Kindern in der Regel einfacher und effizienter als bei Erwachsenen. Es sind das Wissen und die Kunst des Kieferorthopäden, das Gleichgewicht zwischen Knochenab- und aufbau genau zu kennen und mit für jeden Patienten individuell erstellten Apparaten zu seinen Gunsten zu nutzen, um das gewünschte Ergebnis sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen zu erreichen.

Die sicherlich speziell uns Erwachsenen am bekanntesten Apparate in der Kieferorthopädie sind die herausnehmbaren Platten, auch oft "Spangen" genannt. Sie werden in Deutschland bereits wesentlich länger verwendet als die auf der Zahnoberfläche festsitzenden Brackets. Prinzipiell lässt sich mit ihnen das gleiche Ergebnis erreichen wie mit festsitzenden Apparaturen. Allerdings sind bis zum Abschluß der Behandlung in der Regel mehrere verschiedene Platten anzufertigen und die Behandlungszeit ist länger als bei den festsitzenden Apparaturen. Das liegt vor allem daran, dass die herausnehmbaren Apparate vorwiegend das natürliche Wachstum des Knochens ausnutzen und steuern, während die festsitzenden Apparaturen mehr aktive Zahnbewegungen provozieren.

Haupteinsatzgebiet der herausnehmbaren Platten ist heutzutage die gezielte Dehnung der Zahnbögen bei kleinem Kiefer und dazu verhältnismäßig zu großen Zähnen. Tendenziell ist ein Missverhältnis zwischen Kiefer- und Zahngröße bei Kindern seit Jahren ständig zunehmend. Diese Tatsache und der bewusstere Umgang mit Zahnästhetik lassen verstehen, warum heute schon fast jedes dritte Kind in kieferorthopädischer Behandlung ist.

Eine weitere Aufgabe der herausnehmbaren Apparate ist die Korrektur der Bisslage bei Kindern. Sehr häufig kommt nämlich zu einer Fehlstellung einzelner Zähne oder -gruppen ein falscher Biß hinzu. Der in diesen Fällen meist einteilige Apparat bringt den Unterkiefer in die richtige Position zum Oberkiefer, wodurch sein Längenwachstum entweder angeregt oder gebremst wird. Eine falsche oder nicht durchgeführte Korrektur der Bissrelation kann in späteren Jahren zu Schäden innerhalb des Kiefergelenkes und damit zu ernsthaften oft äußerst schmerzhaften Problemen beim Kauen und sogar Sprechen führen.

In der Geschichte der herausnehmbaren kieferorthopädischen Geräte gibt es unzählige Variationen mit unterschiedlichen Wirkprinzipien. Während einige aktiven Druck oder Zug auf die Zähne ausüben, vermeiden andere den Druck der umgebenden Weichgewebe wie Zunge oder Wangen/Lippen, indem sie diese von den Zähnen weghalten. Dazu muß man verstehen dass der kontinuierliche geringe Druck, den die Zunge von innen sowie die Lippen/Wange von außen auf die Zähne ausüben, im Gleichgewicht stehen. Wird einer dieser Faktoren "entfernt", kommt es zwangsläufig zu einer Zahnbewegung in diese Richtung.

Heutzutage werden die herausnehmbaren Platten oft für die erste Phase der kieferorthopädischen Behandlung in der Hauptwachstumsphase der Kiefer eingesetzt, um einen regulierenden Einfluß auf das Wachstum auszuüben. Das gesteigerte Bedürfnis nach perfekter Ästhetik erfordert oft eine zweite Phase mit festsitzenden Apparaturen, die die Feinausrichtung einzelner Zähne wesentlich präziser gestattet als das mit den herausnehmbaren Apparaten möglich wäre.

Die festsitzenden Apparaturen bei der kieferorthopädischen Behandlung lassen nahezu jede Bewegung der Zähne innerhalb des Kiefers zu. Da sie nicht wie die herausnehmbaren Platten nur stundenweise auf die Zähne einwirken, ist das gewünschte Ergebnis zudem oft wesentlich schneller zu erreichen. Außerdem lassen sie Korrekturen in der Zahnstellung zu, die mit den Platten nur sehr schwer oder überhaupt nicht zu bewerkstelligen wären, wie z. B. gezielte Drehungen in der Längsachse oder eine Beeinflussung der sichtbaren Länge der Zahnkrone.

Die heutzutage meist zum Einsatz kommende Technik ist die sogenannte Straight-wire-Technik, so benannt, weil nicht mehr der durch die auf die Zahnoberflächen aufgeklebten Brackets laufende Draht gebogen wird, um die Bewegungen zu erzielen. Vielmehr handelt es sich um einen hochelastischen Draht mit quadratischem Querschnitt, der in eine für den Patienten ideale Zahnbogenform gebracht wird. Die Schlitze in den Brackets haben ebenfalls einen kantigen auf den Draht abgestimmten Querschnitt. Aus einer Vielzahl von Brackets wählt der Kieferorthopäde für jeden Zahn das jeweils korrekte aus. Die Information für die durchzuführende Bewegung "steckt" sozusagen im Bracket selbst in Form des Winkels seines Schlitzes zu den drei Raumebenen. Für jeden Zahn, ausgehend vom mittleren Schneidezahn bis zum letzten Backenzahn, existieren neben den Idealbrackets, die anhand von Durchschnittswerten für den idealen Zahnbogen konstruiert wurden, zahllose Varianten für jeden individuellen Behandlungsfall. Schließlich hat nicht jeder einen Durchschnittskiefer und durchschnittliche Zähne...

Eine Renaissance hat die sogennante linguale Kieferorthopädie in den letzten Jahren erfahren. Dabei werden die Brackets "unsichtbar" auf die Innenseiten der Zähne geklebt. Abgesehen davon, dass sie nicht für alle Behandlungsfälle geeignet ist, sollte sie den wenigen damit wirklich vertrauten Kieferorthopäden vorbehalten sein, da sie sehr viel schwieriger zu handhaben ist und viel Erfahrung voraussetzt.

Kleinere Korrekturen und der "kosmetische Touch" werden nach Abschluß der Behandlung mit sogenannten Retainern oder Positionern vorgenommen. Dabei handelt es sich bei ersteren um Tiefziehschienen, die in der Nacht getragen werden und die erreichte Position der Zähne so sichern sollen. Der Positioner ist aus kautschukähnlichen Material gefertigt und ähnelt den Zahnschützern der Boxer. Er wird auf Gipsmodellen von Ober- und Unterkiefer gefertigt, bei denen die Zähne herausgesägt und idealisiert wieder aufgestellt wurden. Ebenfalls in der Nacht zu tragen, kann dieser elastische "Beißring" noch geringere Zahnstellungsänderungen bewirken.

Eine Kombination aus Positioner und Retainer stellt die neue Invisalign-Methode dar. Dabei wird eine durchsichtige Kunststoffschiene ca. alle zwei Wochen neu angepasst, bis die gewünschte Korrektur erreicht ist. Vorteil der neuen Methode ist die geringe kosmetische Beeinträchtigung, da die Schiene bei Bedarf auch herausnehmbar ist. Wie die linguale Kieferorthopädie ist aber auch hier das Einsatzspektrum eingeschränkt.

Ist die Diskrepanz zwischen den Kiefern zum knöchernen Schädel selbst zu groß, hilft nur die kieferchirurgische Operation. Dabei wird die Position des gesamten Kiefers inklusive Zähnen verändert, der Kiefer ggf. auch verkürzt oder verlängert. Ein solch massives Vorgehen ist aber nur bei extremen Fällen notwendig, bei denen aufgrund schwerer Erkrankungen oder genetischer Dispositionen Kieferverhältnisse vorliegen, die neben der kosmetischen vor allem auch funktionelle Beeinträchtigungen mit sich bringen.

 


Michael Linneweber